Eigentlich tippte ich aufgrund vieler Nachfragen an einem Artikel über meine Orthese und wollte das folgende Thema in den ersten paar Absätzen ansprechen. Uneigentlich wurde es dann aber so lang, dass daraus jetzt ein eigenständiger Beitrag entstanden ist.
Hier im Blog und bisweilen auf Instagram kommt ja immer mal wieder zur Sprache, dass ich Multiple Sklerose (MS) habe. Auch im Leben 1.0 mache ich da mittlerweile keinen Hehl mehr draus – ich bin nicht der Typ, der damit hausieren geht und das jeder neuen Bekanntschaft direkt auf die Nase bindet, aber früher oder später fällt es halt eh auf.
Was aber nochmal auf einem anderen Blatt steht: mir einzugestehen, dass ich hie und da tatsächlich Unterstützung brauche. Sei es durch direkte Hilfe anderer Menschen oder auch durch Hilfsmittel. Ich bin jemand, der am liebsten alles alleine hinbekommen möchte, sich zu einem großen Teil über Leistung und Hinkriegen definiert und verdammt gut darin ist, nicht funktionierende Dinge einfach auszublenden. *hust*
Auch wenn ich in den sechs Jahren seit der Diagnose grundsätzlich gelernt habe, die MS zu akzeptieren, fällt mir das Thema Hilfsmittel und generell Unterstützung annehmen immer noch schwer.
Gerade bei dem besagten Artikel über die Orthesen ist es mir nicht leicht gefallen, den Beitrag zu schreiben und ich habe eine Weile mit mir gerungen, ob ich am Ende wirklich auf den „Veröffentlichen“-Knopf drücken soll. Spoiler: er geht in Kürze live, dann verlinke ich ihn hier auch. 😀
Mit diesem Artikel möchte ich dir Mut machen, dir Unterstützung zu holen und zu erlauben – egal ob du auch MS hast oder einfach generell. Letztlich betrifft das Thema ja jeden und jede Lebenssituation. Und ich möchte auch ehrlich darüber schreiben, dass das definitiv nicht immer einfach ist.
Ich erzähle dir einfach mal von einigen Situationen der letzten Zeit und welche Erkenntnisse ich dabei hatte. 🤓
Auf Rädern statt gerädert
Vor einigen Monaten waren wir beim Möbelschweden. Das war während unserer großen WG-Umzugsaktion, wo ich kräftemäßig auf dem Zahnfleisch ging, mir dauernd das Bein wegknickte und ich schon vorher im Baumarkt auf einem dieser großen, niedrigen Einkaufswagen saß und geschoben wurde, um von A nach B zu kommen. Das war ja noch lustig – ich wollte immer schon mal im Einkaufswagen durch die Gänge flitzen. 😀
Bei Ikea fragte meine Freundin am Eingang kurzerhand nach einem Rollstuhl. Die gibt es da tatsächlich und es war überhaupt kein Problem. Weder musste ich Rede und Antwort wegen meiner Erkrankung stehen, noch einen Fitnesstest absolvieren um zu prüfen, ob ich nicht nur faul bin und mich bloß anstelle. Klingt jetzt amüsant, wenn ich so darüber schreibe, aber man malt sich da ja die absurdesten Dinge aus-
Ich bin meiner Freundin unendlich dankbar, dass sie nachgefragt hat – ich hätte mich das nie und nimmer getraut.
Die ersten Meter waren ein absoluter Spießrutenlauf bzw. eine Spießrutenfahrt. Selber fahren ging nicht, weil das Ding super unhandlich war und mir die Kraft in den Armen fehlte. Ich wurde also geschoben und hätte mir am liebsten eine riesige Papiertüte über den Kopf gestülpt. 🙈
Ich habe dann versucht, mich nur auf unsere kleine Gruppe zu konzentrieren, auf unsere Unterhaltungen und das Beratschlagen über Kallax, Pax & Co.
Das hat tatsächlich geholfen – die Blicke der anderen Leute einfach auszublenden. Wahrscheinlich habe ich mich auch deutlich beobachteter gefühlt, als es tatsächlich war. Es ist nicht leicht, aber es geht.
Beim Verlassen des Ladens kam mir dann eine Erkenntnis mit Wumms: normalerweise bin ich nach solchen Ausflügen völlig im Eimer. Nicht nur körperlich durch, auch einfach kopfmüde. Energie geht ja nicht nur für körperliche Dinge drauf, sondern auch für kognitive.
Das war jetzt zum ersten Mal seit Ewigkeiten anders. Ich war fit. 😳
Mit MS habe ich einfach nicht unendlich viel Energie – und mir dämmerte, dass ich meine Kraft gerade nicht wie sonst komplett für das Herumlaufen & Stehen plus das Verarbeiten der Eindrücke beim Aussuchen und Einkaufen verbraucht hatte, sondern dass ich tatsächlich noch welche für den Rest des Tages übrig hatte.
Lesson learned: ich muss mir überlegen, wofür ich meine Energie einsetzen möchte. Die ist nun mal keine unendliche Ressource und bei MS schon dreimal nicht. Im Zweifelsfall muss ich mich also entscheiden, was mir wichtiger ist – das Herumlaufen und nicht Auffallen oder der eigentliche Inhalt solcher Unternehmungen.
Liebe etwas Starthilfe als ganz verzichten
Ich hatte eine Zeitlang Probleme, nach längerem Reiten gescheit vom Pferd zu kommen. Meine Stute ist nicht gerade klein, sodass ich beim Absteigen nicht nur mein Bein mit einigem Schwung über den Pferderücken bekommen, sondern dann auch noch aus einer gewissen Höhe auf den Boden springen muss. Da sind mir dann gern einfach mal die Beine weggeknickt und ich landete auf meinen vier Buchstaben, was mir nicht nur einen scheelen Blick vom Pferd einbrachte.
Meine Freundin hat sich dann fortan beim Absteigen neben mich gestellt und mich aufgefangen. Am Anfang hatte ich damit superviele Probleme – Kopfkino, dass ich sie mit umschmeißen könnte oder dass ich generell einfach Umstände mache und natürlich, was die anderen denken könnten.
Meistens gehe ich damit mittlerweile entspannter um. Ich bin aber ehrlich – wenn ich nach einem mehrstündigen Geländeritt nichtmal mehr das Bein über den Pferdepopo bekomme und herzlich unbeholfen vom Pferd rutsche / geschoben / gezogen werde, mache ich so eine Aktion dann doch lieber hinter der Stallecke als mitten auf dem Hof auf dem Präsentierteller. 😬
Lesson learned: es wäre dämlich, auf das ganze Reiten zu verzichten, nur weil ich mal nicht alleine aufs Pony hoch- oder von ihm runterkomme. Das dazwischen funktioniert nämlich. 😀
Und noch etwas: ich muss mir immer ins Gedächtnis rufen, dass Verschlechterungen oft auch nur phasenweise sind. Aktuell klappt das Auf- und Absteigen nämlich wieder ausgesprochen gut alleine. 🙂
Delegieren ist eine Kunst
… und das gilt nicht nur, aber auch beim Händeln von Erkrankungen.
Unsere WG haben wir ja nicht nur aus Spaß an der Freude gegründet. Meiner Freundin und ihrer Familie war auch wichtig, dass ich nach der Trennung von meinem Mann nicht alles alleine wuppen muss, gerade wenn mir mein Körper hie und da einen Strich durch die Rechnung macht.
Umgekehrt gilt das übrigens genau so: einfach jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen und Dinge, mit denen er oder sie nicht so gut zurecht kommt. Da ergänzen und unterstützen wir uns hier alle gegenseitig.
Und sei es nur so etwas Banales wie die Tatsache, dass mich beispielsweise das Reinigen von Abflüssen eine riesige Überwindung kosten würde, ich aber ruckzuck und mit Feuereifer ganze Berge von Papierkram durchsortiere und mir das Organisieren von Terminen, Finanzen & Co. tatsächlich Spaß macht.
Woran ich noch arbeiten muss: selber Arbeit abzugeben.
Ich neige dazu, mir den gesamten Mental Load für das Orchestrieren unserer großen Patchworkfamilien-WG aufzuhalsen. Bei fünf Personen plus zehn Tieren (ein Hund, ein Kater, eine zugelaufene Katze, vier Hühner und drei Pferde) kommt da einiges zusammen. 🤯
Und oft bleibt es dann nicht beim Mental Load, sondern ich kremple dann auch direkt die Ärmel hoch und will alles selber erledigen, anstatt um Unterstützung zu bitten. Darüber zu sprechen, hat für einige unerwartete Aha-Momente gesorgt. Denn tatsächlich kam meine eigentliche Intention ganz anders rüber: ich fühlte mich einfach nur unwohl dabei, anderen Arbeit „aufzuhalsen“, es kam jedoch anders an:
Lesson learned: wenn ich immer alles selber machen will, haben andere das Gefühl, dass ich ihnen das nicht zutraue. Auch wenn das natürlich absolut nicht der Fall ist.
Möp… tatsächlich ist das eine Lektion, die ich in beruflicher Hinsicht eigentlich schon vor etlichen Jahren gelernt habe. Damals hatte ich mein erstes Projekt als Projektmanagerin übernommen – und hätte es um ein Haar komplett gegen die Wand gefahren. Ich hatte da nämlich ein schlechtes Gewissen, die anderen Projektmitglieder zu „behelligen“ und hatte lieber auf Deibel komm raus versucht, vom inhaltlichen Konzipieren der Anwendung über das Programmieren bis hin zum Einführen der entsprechenden Prozesse im Unternehmen alles selber zu stemmen.
Das war natürlich viel zu viel Arbeit, ich verpasste die Chance auf Feedback der anderen und noch dazu hatten die sich natürlich irgendwann schulterzuckend abgewandt, weil sie dachten, ich würde nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollen.
Beruflich bin ich da mittlerweile geübt – aber im privaten Leben ist das nochmal eine andere Hausnummer.
Da arbeite ich dran und muss mir immer mal wieder diesen wunderbaren Satz vor Augen halten:
I can do anything, but not everything.
Unabhängigkeit vs. Auffallen
Etliche Hilfsmittel und Alltagshelfer fallen keinem auf, weil man sie nur daheim benutzt oder unauffällig unter der Kleidung trägt. Andere sieht man einfach – und da habe ich in den letzten paar Wochen aufgrund meiner neuen Unterschenkelorthese nochmal ein Stück weit mit mir selber kämpfen müssen.
Auf der einen Seite bin ich natürlich sehr froh, dass es Orthesen & Co. gibt, weil sie Schmerzen reduzieren und einiges ohne sie gerade schlichtweg nicht möglich ist. Mit unserer jungen Hündin spazieren zu gehen, würde ohne die Unterschenkelorthese de facto nicht funktionieren und ich bin verflucht dankbar für diese wiedergewonnene Unabhängigkeit – ich kann damit hinlaufen, wohin ich will. 😎
Gleichzeitig machen solche Hilfsmittel es halt aber auch offensichtlich, dass mein Körper eingeschränkt ist. Gerade, wenn ich sie nicht unter der Kleidung kaschieren kann. Das fällt mir schon mir selber gegenüber nicht ganz leicht und erst recht nicht in der Öffentlichkeit – natürlich zieht eine Orthese Blicke auf sich.
Aber hey – was ist mir wichtiger? Nicht aufzufallen – oder wieder all das tun zu können, worauf ich Lust habe?
Und da sage ich mir: es ist mein Leben. Mein Alltag – mein Lieblingsalltag. Und da will ich mich nicht auch noch selber einschränken, weil irgendwer vielleicht irgendwas denken könnte (was wahrscheinlich nicht einmal passiert – die meisten Menschen haben genug mit sich selbst zu tun)!
Es ist nicht leicht und ich bekomme es noch nicht immer hin. Aber ich arbeite daran. 💪
Unterm Strich…
Keine Frage: es kostet eine Portion Mut und Überwindung, um Unterstützung zu bitten oder Hilfsmittel zu nutzen. Unterm Strich holst du dir damit aber viele Freiheiten und Lebensqualität zurück – und das gilt ja letztlich generell und nicht nur, wenn du eine Erkrankung hast.
Auch der offene Umgang mit Problemen jedweder Natur ist nicht immer leicht, weil du damit auffällst und dich ein Stück weit verletzlich zeigst. Aber am Ende des Tages hat jeder Mensch mit irgendetwas zu kämpfen… solange wir uns nach außen hin unnahbar und „perfekt“ zeigen, verstecken wir einen wichtigen Teil von uns. Das macht einsam. Erst offen auch über solche Themen zu sprechen und sich auszutauschen, verbindet uns und macht uns menschlich.
Wie gesagt, es fällt mir auch nicht immer leicht, hier im Blog über die MS zu schreiben. In der Theorie ist das alles ja immer schön und gut, die Praxis kostet aber dann doch nochmal Mut.
Aber ich sage mir: wenn ich mit diesem und den anderen Artikeln ein Stück dazu beitragen kann, ein bisschen mehr über das Leben mit Multipler Sklerose aufzuklären, Berührungsängste abzubauen und die Scheu vor Hilfsmitteln zu nehmen, dann hat es sich das Überwinden gelohnt. 🙂
Pingback: Orthesen & Co. bei Multipler Sklerose | Lieblingsalltag