Hast du MS – und keiner weiß es?
Wieso es so schwer ist, offen über die MS zu reden, und warum du dir mit dem Verheimlichen keinen Gefallen tust.
Ein gebrochenes Bein würde niemand verstecken, aber mit einer chronischen Erkrankung wie Multipler Sklerose verhält es sich anders: aus Angst vor den Reaktionen unseres Gegenübers verschweigen wir sie oft oder erfinden sogar Ausreden für dieses oder jenes Symptom.
Auch bei mir war das etliche Jahre lang nicht anders – aber ich habe erkannt, dass mir das Verbergen nicht gut tut.
Ich habe mir das Leben selber schwer gemacht
Mein Umgang mit der MS hat sich im Laufe der Jahre gewandelt. Darüber habe ich neulich ausführlicher in dem Artikel Wie ich gelernt habe, die MS zu akzeptieren geschrieben.
Auch ob und wann ich anderen Menschen gegenüber diese Diagnose erwähne, hat sich verändert.
Zuerst: ich habe MS – ja und?
Frisch nach meiner MS-Diagnose ging ich noch sehr offen mit dem Thema um.
Kollegen und Bekannte hatten mitbekommen, dass ich eine Woche im Krankenhaus war, und natürlich erkundigten sie sich nach dem Grund. Wenn jemand fragte, antwortete ich ehrlich. Ich veröffentlichte sogar einen Beitrag darüber auf meinem anderen Blog vom Landleben.
Ich dachte mir damals:
Hey, ich kann nichts dafür. Ich habe nichts falsch gemacht. Diese Diagnose kann jeden treffen.
Und deswegen sah ich es gar nicht ein, die Multiple Sklerose zu verheimlichen.
Funktionieren und bloß nicht als krank gelten
Nachdem der damalige Schub abgeklungen war, funktionierte mein Körper wieder wie vorher. Und da fing es an, schleichend: dass ich mir und der Welt unbedingt beweisen wollte, trotz der Diagnose mindestens genauso viel Leistung bringen zu können wie vorher und wie all die anderen Menschen um mich herum – wenn nicht gar mehr. Damit setzte ich mich natürlich wahnsinnig unter Druck.
Während dieser zweiten Phase meiner „MS-Karriere“ funktionierte ich nach außen hin 1a. Die psychische Belastung war allerdings enorm, denn ständig saß mir die Angst im Nacken, wie lange ich das wohl alles schaffen würde. Mir war es extrem wichtig, bloß nicht als krank zu gelten. Ich wollte nicht in Watte gepackt werden. Und ich hatte Angst davor, dass man mir weniger zutraute.
Deswegen erwähnte ich die MS nicht mehr. Auf Instagram löschte ich die Beiträge, die ich damals im Krankenhaus gepostet hatte. Ich suchte mir ein Yoga-Studio, und natürlich schwieg ich bei der Frage der Lehrerin, ob jemand irgendwelche Vorerkrankungen hätte.
Eine Zeitlang ging das gut – auch wenn meine Gedanken immer wieder um die Multiple Sklerose kreisten, so merkte man mir nichts davon an.
Symptome verstecken
Irgendwann spielte mein Körper dieses Spiel aber nicht mehr 100%ig mit.
Ich ertappte mich dabei, meiner Familie und anderen gegenüber die Symptome zu verheimlichen. Ich wollte nicht, dass mein Mann oder meine Mom sich Sorgen machen.
Und irgendwie, so blöd es klingt, schämte ich mich auch einfach dafür, nicht mehr richtig zu funktionieren.
Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an einen heißen Nachmittag auf dem Tennisplatz. Meinem Mann fiel auf, dass mein linkes Bein nicht mehr so ganz mitspielte. Mir war das allerdings so unangenehm, dass ich das abwiegelte und vorgab, einfach aufgrund der Hitze und Anstrengung groggy zu sein und deswegen nicht mehr jedem Ball hinterher zu sprinten.
Das Verstecken kostete zusätzliche Energie – die ich eigentlich gar nicht hatte.
Wenn das Verheimlichen schwer bis unmöglich wird
Irgendwann wurde aus der MS bei mir auch einfach mehr als eine unsichtbare Behinderung.
2021 war ich mit zwei Freundinnen übers Wochenende in Hamburg – und meine Blase fand es ganz lustig, mich aufgrund einer Spastik plötzlich am Wasserlassen zu hindern. Suuuuuper. Ich musste richtig dringend, es kam aber fast nüscht. Ergo investierte ich unglaublich viele 50 Cent-Stücke, um in allen möglichen Restaurants, Cafés und Autobahnraststätten aufs Klo zu gehen und es zumindest zu versuchen. Sightseeing mal anders.
Das fiel natürlich auf – und ich hatte die Wahl: entweder lasse ich mir irgendeine fadenscheinige Ausrede einfallen, oder ich bin ehrlich. Und letzteres machte die ganze Angelegenheit tatsächlich einfacher.
In letzter Zeit hat mein Bein nach dem Reiten gerne mal mehr so die Konsistenz und Kraft einer weichgekochten Spaghetti und ich laufe entsprechend schief die Stallgasse entlang. Das führt natürlich auch zu irritierten Blicken: „Bist du runtergefallen und hast dir was getan?“ – Da sage ich mittlerweile auch offen, dass ich MS habe und einfach ein bisschen k.o. bin.
Meinem Arbeitgeber gegenüber bin ich ebenfalls ehrlich. Denn die MS bringt auch einfach eine ganze Reihe an Terminen mit sich, die sich nicht immer außerhalb der Arbeitszeit legen lassen: von MRT-Scans über Kontrolltermine beim Neurologen, Physiotherapie oder dem Anpassen von Hilfsmitteln im Sanitätshaus. Da finde ich es nur fair, wenn mein Vorgesetzter auch den Grund kennt, selbst wenn sich meine Symptome nicht direkt auf die Arbeit auswirken.
Ich binde die Multiple Sklerose auch jetzt nicht jedem gleich nach 5 Minuten auf die Nase oder gehe mit meiner Geschichte hausieren. Aber mittlerweile kann ich die Auswirkungen der Multiplen Sklerose oft ohnehin nicht mehr so wirklich verbergen. Und dann bin ich lieber ehrlich, ehe die Gerüchteküche anfängt zu brodeln. So ein „Klassiker“ bei MS ist etwa, dass Betroffenen dauerschwindelig ist und man sie für betrunken hält.
Die MS ist ein Teil von dir
… ob du es willst oder nicht. Und wenn du sie auf Biegen und Brechen versteckst, verleugnest du einen Teil deiner Identität. Ganz gleich, ob es um das Verbergen körperlicher Symptome geht oder um das Verschweigen der düsteren Gedanken, die einen dann doch bisweilen mal heimsuchen.
Das ständige Lügen nagt am Selbstwertgefühl – als sei deine Erkrankung ein schmutziges kleines Geheimnis.
Und hey – Krankheiten sind niemals etwas, für das du dich schämen müsstest.
Weder für die Erkrankung oder Behinderung an sich, noch für irgendwelche Symptome, noch wenn du Unterstützung von anderen benötigst.
Das zu verinnerlichen, ist nicht leicht. Denn in der Theorie oder in Bezug auf andere mag das ja ganz selbstverständlich klingen – aber ganz konkret für dich und dein Leben? Meine Freundin und ich haben da einen Running Gag, weil ich immer gern sage: „Neeeee, das ist was ganz anderes!“ 😀
Ich arbeite daran, mich für die Unzulänglichkeiten Besonderheiten und Einschränkungen meines Körpers nicht zu schämen. Und das kannst du auch.
Wir können die Gesellschaft verändern
Mehr noch: wir alle wünschen uns doch eine Gesellschaft, in der wir uns nicht verstellen und schämen müssen. Weder für unsere Identität, noch für Erkrankungen und Behinderungen – völlig egal ob Multiple Sklerose, Depressionen, Epilepsie oder was auch immer. Indem wir unsere MS verheimlichen, gießen wir Öl ins Feuer von Ableismus und Disablismus.
Ardra vom englischsprachigen MS-Blog Tripping On Air hat das in ihrem Artikel What’s the big deal about coming out with MS? sehr schön ausgedrückt:
So many people live in fear of being found out and seen as damaged, broken, sick, less-than. Disability IS normal. If we can’t raise a hand and say this is me, this is what MS looks like, then we can do nothing to undo the myth that we are different, strange, less-than, other.
Nur wenn wir offen zu unserer Diagnose stehen und unser Leben trotzdem weiterleben, mit allen Höhen und Tiefen, mit Gefluche und ein bisschen Glitzer, können wir etwas dagegen tun, von anderen auf die MS reduziert zu werden.
Weiterlesen?
Einen tollen Artikel zum Thema Outing bei MS hat Alex drüben im Starke Worte-Blog von trotz ms verfasst: Anderen MS erklären: sag ich’s oder sag ich’s nicht?
Wie ist das bei dir? Wie offen gehst du mit deiner MS um?
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