In den letzten paar Monatsrückblicken habe ich hier ja immer mal wieder ein Update vom (langen) Weg zu meiner Unterschenkelorthese gegeben. Seit Juli trage ich sie endlich. Da ich etliche Fragen erhalten habe, was eine Orthese eigentlich ist, wie genau sie mir bei der Multiplen Sklerose (MS) hilft und so weiter, habe ich mich mal an einen Beitrag dazu gesetzt. 🙂
Es ist mir nicht ganz leicht gefallen, diesen Artikel zu schreiben – mit dem Thema Hilfsmittel hadere ich bisweilen einfach noch. Warum ich mich trotzdem überwinde und jetzt mal ganz mutig auf „Veröffentlichen“ klicke, habe ich neulich hier geschildert: Hilfe & Hilfsmittel akzeptieren – in der Theorie easy-peasy…
Was ist eine Orthese?
Salopp gesagt ist eine Orthese ein medizinisches Hilfsmittel, das einen Körperteil unterstützt. Anders als bei einem Gipsbein kannst du eine Orthese jederzeit öffnen und ablegen.
Orthesen gibt es für alle möglichen Körperteile und für verschiedene Einsatzzwecke: beispielsweise zum Ruhigstellen bei akuten Verletzungen wie einem Bänderriss, zum Korrigieren angeborener Fehlstellungen oder zum Stabilisieren, wenn die Muskeln oder Gelenke so wie bei mir krankheitsbedingt nicht mehr so recht mitspielen wollen.
Der Name kommt vom griechischen orthos, was so viel bedeutet wie „richtig“ (deswegen heißt die Rechtschreibung übrigens auch Orthografie 🤓). Eine Orthese sorgt also dafür, dass sich der Körper möglichst richtig und gerade bewegt. Das wiederum verhindert Folgeschäden und Schmerzen durch Fehlhaltungen (davon kann ich ein Liedchen singen).
Orthesen werden unter anderem aus Metall / Carbon, Silikon und Kunststoff gefertigt, können bewegliche Gelenke haben und sind mitunter ganz schön kompliziert und ausgefuchst aufgebaut.
Was ist der Unterschied zwischen Orthesen, Bandagen, Schienen und Prothesen?
Eng verwandt mit Orthesen sind die Bandagen und Schienen, teilweise werden die Begriffe auch synonym verwendet. Entwirren wir das Wörterkuddelmuddel mal ein bisschen. 🙂
Bandagen sind flexibler als Orthesen und bestehen aus einem straffen, etwas elastischen Gewebe. Je nach Variante können auch zusätzliche feste Elemente eingearbeitet sein. Bandagen haben eine leichtere stützende Wirkung und du kannst dich damit freier bewegen als mit Orthesen. Beim Bewegen massiert eine Bandage außerdem und regt somit die Muskeln und Nerven an.
Schienen stellen ein Körperteil komplett ruhig. Früher wurden Schienen mangels Alternative auch für Fälle verwendet, in denen heute eine Orthese mit Gelenk zum Einsatz kommt, was den Alltag natürlich erleichtert.
Prothesen sind nur entfernte Verwandte der Orthesen: sie stützen kein Körperteil, sondern ersetzen es komplett, beispielsweise nach einer Amputation.
Der einfacheren Lesbarkeit halber werde ich im Folgenden immer von Orthesen sprechen, auch wenn teilweise eigentlich Bandagen oder Schienen gemeint sind.
Orthesen bei Multipler Sklerose (MS)
Bei der MS gibt im Laufe der Zeit die Nervenleitfähigkeit ihren Geist auf. Sprich: die Muskeln an sich funktionieren eigentlich top, die Signale vom Gehirn kommen nur nicht mehr richtig an. Das kannst du dir ungefähr so vorstellen, wie wenn du irgendwo in der deutschen Pampa versuchst, mit deinem Handy zu telefonieren. 😀
Infolgedessen reagieren die Muskeln langsamer, gar nicht oder etwas bockig mit Spastiken, sprich Verkrampfungen.
Hier kommen Orthesen ins Spiel. Denn nur weil beispielsweise ein Beinmuskel nicht so tut, wie er soll, ist das ja noch lange kein Grund für einen Rollstuhl. Orthesen sorgen für Stabilität, gleichen gewisse Defizite mechanisch aus und verhindern dadurch auch Stürze.
Wie kommst du zu einer Orthese?
Theoretisch kannst du dir Orthesen – wie alle Hilfsmittel – aus eigener Kasse selber im Sanitätshaus kaufen. Sinnvoller ist es natürlich, den Weg über Arzt und Krankenkasse zu gehen. Denn für eine Orthese landest du je nach Modell locker bei einem vier- bis fünfstelligen Betrag.
Dein Arzt (bspw. Hausarzt, Orthopäde oder Neurologe) beurteilt, ob eine Orthesenversorgung in deinem Fall generell sinnvoll ist. Da Ärzte auf diesem Gebiet aber meist keine Fachleute sind, erhältst du im Sanitätshaus eine umfangreiche Beratung und kannst unter dem kritischen Blick eines Experten auch verschiedene Modelle ausprobieren.
Bei meinen „einfachen“ Orthesen, wo ein Modell von der Stange völlig ausreichte, war das sehr simpel: mein Hausarzt hat mir direkt im Termin ein Rezept ausgestellt, damit bin ich zum Sanitätshaus gefahren und habe verschiedene Varianten ausprobiert. Im Falle der Handorthese hätte ich von der Krankenkasse nur ein einfaches Modell bekommen, was allerdings weniger gut gepolstert wäre. Daher habe ich mich hier für eine Zuzahlung aus eigener Tasche entschieden, das war irgendwas um die 60€.
Eine kleine Zuzahlung in Höhe von maximal 10€ musst du übrigens immer leisten, sofern du davon nicht befreit bist.
Das Sanitätshaus bestellt die Orthese dann und nach ein paar Tagen kannst du sie abholen – fertig.
Im Falle einer individuell gefertigten Orthese ist das etwas komplizierter. Hier erhältst du vom Sanitätshaus eine genaue (und für Otto Normalverbraucher erstmal etwas kryptische) Angabe, was du benötigst. Das ist wichtig, denn haargenau das muss dein Arzt anschließend auf das Rezept schreiben, was bei der Krankenkasse eingereicht wird. Andernfalls kann es sein, dass die Krankenkasse irgendetwas genehmigt, was nur entfernt in diese Richtung geht und dir ggf. gar nicht weiterhilft.
Im Falle meiner Unterschenkelorthese hieß das dann beispielsweise „1 Unterschenkelorthese rechts mit speziellem Knöchelgelenk in FVK-Technik mit ventraler Anlage nach Maß und Abdruck“.
Im Idealfall gibt dir die Krankenkasse nach maximal 5 Wochen grünes Licht.
Bei mir hat sich das leider ewig hingezogen, weil die Krankenkasse den Medizinischen Dienst einschaltete, um den Antrag zu prüfen. Durch den Medizinischen Dienst soll sichergestellt werden, dass eine Verordnung wirklich sinnvoll ist.
Hier wurde es bei mir kompliziert – mich hat zwar der Orthopäde zum Sanitätshaus geschickt, das eigentliche Rezept stellte dann aber mein Hausarzt aus, weil ich den Orthopäden ewig und drei Tage nicht erreichte. Der Medizinische Dienst wiederum schickte einen Fragebogen an meine Hausarztpraxis, die damit aber fachlich überfordert war (bspw. ging es um die Messung der Kraftgrade, sprich, wie viel Kraft habe ich in welchen Muskeln). Also musste ich auf einen Termin beim Orthopäden warten, bei dessen Koordination dann auch noch einiges schief lief… unterm Strich hat es das so lange verzögert.
Lesson learned: Rezepte für maßgefertigte Orthesen immer direkt vom Facharzt ausstellen lassen und nicht vom Hausarzt. 🙂
Nachdem der Medizinische Dienst alle Angaben von meinem Orthopäden erhalten hatte, ging die Genehmigung durch die Krankenkasse dann tatsächlich recht flott. Sobald die da war, bekam ich einen Termin zum Maßnehmen im Sanitätshaus. Früher wurden Orthesen mit Hilfe eines Gipsabdrucks erstellt – ich war sehr happy, dass mein Sanitätshaus da modern aufgestellt ist und einen 3D-Scanner nutzt. 😅
Einige Zeit später war die Orthese dann grob fertig und wurde noch einmal angepasst und feinjustiert, beim nächsten Termin konnte ich sie schließlich mitnehmen. 🙂
Welche Orthesen und Bandagen nutze ich selber?
Allmählich wächst meine Sammlung dessen, was ich grinsend als mein Exoskelett bezeichne. 😀
Neben meiner MS-Erkrankung habe ich noch mit Skoliose (einer Verkrümmung der Wirbelsäule) zu tun sowie mit einer angeborenen Trichterbrust (mein Brustkorb und meine Rippen sind „eingedellt“ und schief). Rückenschmerzen sind da leider vorprogrammiert. Heutzutage kann man Skoliose und Trichterbrust übrigens gut im Kindesalter behandeln und korrigieren, in den 80ern und 90ern war das leider noch nicht der Fall.
Aufgrund der damit einhergehender Probleme und Schmerzen nutze ich seit einigen Jahren verschiedene Orthesen und Bandagen.
Ich trage nicht immer alles – gerade bei der MS gibt es halt gute Phasen und weniger gute. Hinzu kommt, dass ich grundsätzlich zwar einen sehr hohen Muskeltonus habe, also eigentlich am ganzen Körper angespannt bin, trotzdem aber teilweise weniger Kraft habe. Daher muss ich immer auch ein bisschen gucken, welches Hilfsmittel tagesaktuell sinnvoll ist.
„So viel wie nötig, so wenig wie möglich“, lautet da mein Credo. 😉
Rückenbandage
Für den unteren Rücken bzw. LWS-Bereich habe ich eine Bandage mit eingearbeitetem festen Teil, einer sogenannten Pelotte. Sie soll den Rücken stützen und die Muskeln durch die leichte Massagewirkung davor bewahren, so stark zu verkrampfen. Ehrlicherweise hilft das aber nur bedingt.
Lagerungsschiene für die Hand
Insbesondere abends und nachts habe ich oft mit Spastiken in der linken Hand zu kämpfen. Dann verkrampfen sich meine Finger (vor allem kleiner Finger und Ringfinger) und tun am nächsten Morgen so weh, als hätte ich mir einen zehnründigen Boxkampf geliefert.
Um das zu verhindern, hat mir mein Doc letztes Jahr eine Lagerungsschiene verschrieben. Der Daumen ist hier frei beweglich, weil ich in dem keine Probleme habe und die Hand damit zumindest noch ein bisschen benutzen kann.
Ehrlicherweise trage ich die Schiene eigentlich nur nachts, weil ich mich damit doch ziemlich eingeschränkt fühle und mich das tierisch nervt. Auch wenn der kleine Finger und Ringfinger krampfen, kann ich ohne die Schiene sonst halt auch noch meinen Zeige- und Mittelfinger benutzen und zusammen mit dem Daumen Gläser etc. festhalten, was mit der Schiene nicht funktioniert. 🙈
Die Spastiken selber verhindert eine solche Schiene nicht, aber zumindest verkrümmen die Finger nicht so sehr, sondern bleiben weitestgehend gerade und tun weniger weh.
Knieorthese
Seit ungefähr einem Jahr tut mein rechtes Bein nicht mehr so, wie es soll. Auf längeren Strecken oder bergab knickt es mir oft weg.
Im Januar bekam ich endlich einen Termin beim Orthopäden – die Frage war, ob das von der Multiplen Sklerose kommt oder von einem orthopädischen Problem in der LWS, sprich einem Bandscheibenvorfall. Letzteres konnte durch ein MRT ausgeschlossen werden, es ist dann halt doch mal wieder die liebe MS Schuld.
Bei der Messung des Kraftgrads habe ich denn auch nur noch knappe 3 von 5 möglichen Punkten bekommen. Weil das ganze Bein instabil ist, knickt mir dann halt auch das Knie weg.
Von dem im Januar ausgestellten Rezept für eine entsprechende Orthesenversorgung bis hin zur eigentlichen Orthese verging dann leider ein geschlagenes halbes Jahr. Im Frühjahr war ich frustriert und verzweifelt, weil ich dauernd Schmerzen im Bein und in der Hüfte hatte und schon merkte, dass ich mir durch den schiefen Gang allmählich auch mein linkes Knie kaputt mache. Daher habe ich mir aus eigener Tasche eine Stütze für das rechte Knie gekauft, um wenigstens ein bisschen Stabilität reinzubekommen.
Diese Orthese aus dem Sportfachhandel besteht aus einer Bandage mit einem festen Kniegelenk, was ein seitliches Wegknicken verhindert.
Not-so-fun fact: weil ich durch die Probleme mit dem rechten Bein so lange schief gelaufen bin, hat mein linkes Knie tatsächlich einen Klatsch wegbekommen und mosert jetzt gerne mal rum. Wie praktisch, dass die Knieorthese für beide Seiten passt. 🙈
Unterschenkelorthese
Ende Juli war es endlich soweit, dass ich meine eigentliche, maßgefertigte Orthese für das rechte Bein abholen konnte.
Im Sanitätshaus haben wir verschiedene Arten von Orthesen ausprobiert. Dass eine Orthese „von der Stange“ nicht ausreicht, wurde schnell klar. Mit elektrischen Impulsen, die den Muskeln ansteuern, kam ich leider gar nicht zurecht.
Zwischenzeitlich stand auch eine komplette Orthese für das ganze Bein bis hin zum Oberschenkel im Raum, mit einem elektronischen Kniegelenk, weil die das Knie nochmal mehr stabilisieren würde. Das war mir aber ehrlich gesagt too much.
Die Orthese hat unten eine Metallplatte, die im Schuh unter die herausnehmbare Sohle bzw. in meinem Fall unter die Einlage gesteckt wird. Am Knöchel befindet sich ein verstellbares Gelenk.
Wie fühlt es sich an, eine Orthese zu tragen?
Im Vergleich zu einem normal funktionierenden Körperteil schränkt dich eine Orthese schon ein, du kannst dich damit nicht so frei bewegen. Bei meiner Unterschenkelorthese merke ich das beispielsweise beim Treppensteigen ganz extrem, da muss ich mich sehr konzentrieren und aufpassen, weil mein Knöchel damit weitestgehend starr ist. Auf einer Treppenstufe über die dort schlafende Katze drüberzusteigen, funktioniert mit der Orthese nicht. 😉
Aber schließlich trägst du eine Orthese nicht aus Spaß an der Freude – und verglichen mit dem, wie mein Körper ohne sie funktioniert, sind die Orthesen eine enorme Unterstützung! Ich habe damit weniger Schmerzen, da meine Muskeln nicht so verkrampfen und ich nicht so sehr in eine Fehlbelastung / Schonhaltung rutsche. Gerade im Bein gibt mir die wiedererlangte Stabilität auch viel Sicherheit zurück: ich habe nicht mehr dauernd Angst, dass das Bein nachgibt und ich auf die Nase fliege.
Ich hoffe, dieser Beitrag hat dir einen kleinen Einblick in das Thema Orthesen bei Multipler Sklerose geben können und etwas von den Berührungsängsten abbauen können, die man bei so Geschichten wie Hilfsmitteln oder körperlichen Einschränkungen halt einfach oft hat, wenn man damit noch nicht so viel zu tun hatte.
Wenn du Fragen hast – schieß los.
Und zum Schluss möchte ich dir gern noch etwas mit auf den Weg geben, was ich selber lernen musste (und mir teilweise auch immer wieder sagen muss): Hilfsmittel heißen Hilfsmittel, weil sie dir helfen können und das Leben einfacher machen. Dafür sind sie da. Wenn dir ein Hilfsmittel das Leben erleichtert, dann ist es gut und richtig, es zu nutzen. 🙃
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